Seien wir ehrlich: jeder träumt während seines Motorradlebens mindestens einmal davon, Teil der MotoGP zu sein. Ich bin da keine Ausnahme. Schon als Kind habe ich in den Neuzigern erst Kevin Schwantz und Wayne Rainey, später Mike Doohan und den jungen Valentino Rossi bewundert und davon geträumt, irgendwann auch in der Weltmeisterschaft zu fahren. Mangelndes fahrerisches Talent ließ mir aber schnell klarwerden, dass ich es nie als Fahrer in eine der Boxen schaffen würde. Aber es gibt ja noch andere Wege ins Fahrerlager. Den als Journalist zum Beispiel. Und in diesem Jahr bot sich endlich die Möglichkeit, einen intensiven Blick hinter die Kulissen der MotoGP zu werfen. Ein Jahr nach der Rückkehr Michelins in die MotoGP luden die Franzosen beim Deutschland GP eine handverlesene Auswahl Journalisten ein und gewährten einen Tag lang Einblick in die höchste aller Motorradklassen. Wir waren mit dabei. Und beeindruckt.
Im blauen Zentrum
Schon der Empfang war spektakulär. Denn die Hospitalities der MotoGP-Teams gleichen eher hippen Boutiquen oder zumindest den stylischen Showrooms moderner Autohäuser und auch Michelin als Reifenhersteller kann da durchaus mithalten. Für die knapp 30-köpfige Crew steht an den Rennwochenenden ein luxuriöser, zweistöckiger Trailer zur Verfügung – vollwertiger Küche und Konferenzraum inklusive. Die Franzosen hatte aber natürlich nicht geladen, um mit einem luxuriösen Truck zu protzen. Es ging natürlich vor allem ums schwarze Gold. Und auch davon gab es reichlich. Das erste, was beim Betreten des Montagebereichs auffiel, waren aber nicht die Reifen, sondern Ordnung und Ruhe. Egal, wohin das Auge auch schweifte, alles wirkte aufgeräumt und die Reifentechniker arbeiteten konzentriert aber gelassen. Das Einzige, was für Unruhe sorgten, war eine kleine Gruppe Journalisten. Es wirkte fast so, als wären die Reifen, welche die Michelin-Männchen für die MotoGP-Piloten vorbereiteten, so empfindlich, dass man sie nicht durch Lärm und Hektik erschrecken dürfe.
Und ganz so verkehrt ist dieser Eindruck auch gar nicht. Auf Lärm und Stress reagieren die edlen Pellen natürlich nicht verstimmt, auf andere Umwelteinflüsse aber schon. Daher werden die Reifen von der Produktion bis kurz vor der Montage bei einer Temperatur von 20 Grad gelagert, um Schwankungen im Gripniveau zu vermeiden. Dabei sind die Reifen im Einsatz ja ganz anderen Belastungen ausgesetzt. Laut Michelin-Motorradsport-Chef Piero Taramasso wird ein Michelin-Hinterrad aufgrund der enormen Leistung der MotoGP-Motorräder von über 260 PS bis zu 120 Grad Celsius heiß. Selbst am Vorderrad sind 100 Grad normal, je nach Aggressivität des Fahrstils sind sogar bis zu 110 Grad möglich. Die Eckdaten der Michelin-Gummis sind auf den ersten Blick aber gar nicht so außergewöhnlich. Größe und Gewicht liegen mit 17 Zoll und knapp sieben Kilo auf dem Niveau von frei käuflicher Ware. Auch die empfohlenen Luftdrücke liegen mit 2,1 bar vorne und 1,7 bis 1,8 hinten (beides heiß gemessen) auf dem Niveau normaler Rennreifen.
Darüber hinaus haben die MotoGP-Reifen mit käuflichen Slicks aber nicht viel gemein. Die Anforderungen durch die Leistung der Motorräder, die Kräfte beim Bremsen, Beschleunigen sowie die, während der Fahrt erreichten, Temperaturen sind so viel höher, dass die in der MotoGP verwendeten Mischungen sich grundlegend von denen in normalen Rennreifen unterscheiden. Welche Zauberingredienzien hier genau verwendet werden? Kein Kommentar. Die Karkasse wiederum ist erstaunlicherweise nicht viel härter als bei normalen Slicks. Dennoch würde der Reifen unter einem Normalsterblichen nicht funktionieren, da man nie genug Kraft in den Reifen bringen könnte, um das nötige Temperaturfenster der Pneus zu erreichen.
Forschungsarbeit
Dass das auch den MotoGP-Piloten manchmal alles andere als leichtfällt, ist wohl ein offenes Geheimnis. Das liegt zum einen an den Reifen selbst, die, wie sich vor allem in dieser Saison gezeigt hat, ein extrem sensibles Händchen beim Abstimmen des Fahrwerks benötigen, um den Reifen ausreichend zu fordern und so genug Temperatur hineinzubringen. Zum anderen sind es äußere Einflüsse wie die Streckencharakteristik oder einfach das Wetter, die den Verantwortlichen bei Michelin und vor allem den Fahrern Kopfschmerzen bereiten. Letztgenannten oftmals sogar wortwörtlich. Auf Rennstrecken mit ungleichmäßigem Verhältnis von Links- und Rechtskurven wie Philip Island oder dem Sachsenring versucht man zwar, den Temperaturproblemen mit asymmetrischen Vorderrädern mit unterschiedlich weichen Mischungen auf den Reifenflanken entgegenzuwirken, dass dies nicht immer funktioniert, sieht man aber zum Beispiel an der berüchtigten Kurve 11 am Sachsenring. Trotz einer ultrasoften rechten Reifenflanke am Vorderreifen stürzen die Fahrer hier regelmäßig über das Vorderrad. Piero Taramasso erklärt, warum: „Bevor die Fahrer am Sachsenring Kurve 11 erreichen, fahren sie ganze 41 Sekunden auf der linken Seite und der Temperaturunterschied im Reifen kann zwischen links und rechts bis zu 30 Grad betragen. Wenn die Fahrer dann auf rechts umlegen, ist Gefühl gefragt“. Um die Reifen konstant zu überwachen, kommen TPMS-Sensoren zum Einsatz eingesetzt. Während diese anfangs nur dazu dienten, Informationen zu Temperatur und Druck zu sammeln, wird inzwischen bei der Montage auch der Reifentyp im Sensor hinterlegt, wovon vor allem die Zuschauer zu Hause profitieren. Das System übermittelt per Transmitter die Informationen aus dem Sensor an die ECU des Motorrads und von dort aus wird dann das Signal an DornaTV und damit an die TV-Sender übertragen. Das ist vor allem bei Reifenentscheidungen in letzter Sekunde hilfreich, da auch die Fans vor dem Fernseher sofort sehen, welcher Fahrer welchen Reifen einsetzt.
Ganz schwierig wird es für Fahrer und Teams, wenn das Wetter nicht mitspielt. Die Reifen für die einzelnen Grand Prix werden circa drei Wochen vor dem jeweiligen Rennen vorproduziert. Als Basisinformationen für die Fertigung fungieren die Wettervorhersage für das Rennwochenende und die Mischung, die im Vorjahr am besten funktionierte. Diese dient – unter Berücksichtigung des erwarteten Wetters – als Medium-Mischung und es werden noch eine softere und eine härtere Variante produziert. Meistens passt das ganz gut, allerdings gibt es Ausnahmen, wie Piero Taramasso weiß: „Man erinnere sich zum Beispiel an das dritte freie Training beim US-Grand im Frühjahr in Austin (TX). Hier lagen die Temperaturen weit unter den Erwartungen und vor allem die Vorderreifen bereiteten den Fahrern enorme Schwierigkeiten.“ Für diese Fälle gibt es dann tatsächlich keine Reifenmischung für den Notfall und man kann nur versuchen, durch Luftdruckanpassungen und eine höhere Temperatur der Heizdecken, den Effekt etwas zu mildern. Die Fahrer sehen sich in solchen Situationen noch mit einer anderen Herausforderung konfrontiert. Es stehen zwar drei verschiedene Mischungen zur Auswahl und über das Wochenende können 10 Vorderreifen und 12 Hinterreifen genutzt werden, die Piloten sind aber bei der Anzahl der Reifen pro Mischung eingeschränkt. Bei den Vorderreifen dürfen sie höchstens fünf Mal die gleiche Variante nutzen und auch am Hinterrad gibt es Einschränkungen (max. 6x Soft, 5x Medium und 4x Hart). Einzige Ausnahme: die beiden Fahrer, die sowohl am ersten als auch am zweiten Qualifying teilnehmen. Sie bekommen einen soften Hinterreifen zusätzlich. Sollte es also besonders heiß oder kalt sein und nur die harte oder softe Mischung funktionieren, müssen die Fahrer zwangsläufig auch Mischungen fahren, die nicht optimal sind.
Vor allem an diesen Wochenenden haben die Reifeningenieure alle Hände voll zu tun. Jeder der Michelin-Ingenieure ist für zwei Teams und vier Motorräder verantwortlich und betreut ein Werks- und ein Satelliten-Team. Allerdings hat er für seine Schützlinge nur eine Stunde Zeit. Danach werden die Erfahrungen aller Teams zusammengetragen und analysiert.
Die gesammelten Daten werden aber natürlich nicht nur vor Ort genutzt, sondern fließen auch in die MotoGP-Reifenentwicklung ein. In der Michelin-Zentrale in Clermont-Ferrand arbeitet man während der Saison an sieben Tagen in der Woche daran, die Performance der Reifen kontinuierlich zu verbessern. Hierfür gehen auch alle Reifen eines Wochenendes gehen an den Ort ihres Ursprungs zurück. Während die gebrauchten Reifen nach der Untersuchung vernichtet werden, gehen die noch jungfräulichen Pneus in einen Test-Pool für die Privat-Tests der Teams.
Da Michelin selbst keinen Zugang zu MotoGP-Bikes hat, sind diese Tests für die Entwicklung essentiell. Zwar testet man Neuentwicklungen zuerst selbst, die Franzosen müssen sich hier aber einer Krücke behelfen. Nach der Konzeption eines neuen MotoGP-Pneus, dem Bau der Prototypen und den zeitgleich laufenden Computersimulationen, nutzen die hauseigenen Testfahrer spezielle Test-Superbikes mit MotoGP-Komponenten für die ersten Roll-Outs, die Motorräder selbst und vor allem der Motor entsprechen aber nicht den Maschinen der Hersteller. Waren die internen Tests erfolgreich, gehen die Reifen an die Teams und werden dort zuerst von den Testfahrern gefahren. Erst dann werden die Reifen an die eigentlichen Werksfahrer weitergegeben. Laut Michelin-Motorradsport-Chef Piero Taramasso sind vor allem ihre Aussagen von immenser Bedeutung: „Selbst zwischen den Testfahrern der Teams und den offiziellen Piloten gibt es noch mal einen großen Sprung, da die offiziellen Fahrer in der Regel noch mal ca. 2 Sekunden schneller sind als die Testpiloten der Hersteller. Erst hier zeigt sich dann also genau, was der Reifen tatsächlich kann.“
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