(Motorsport-Total.com) – In den vergangenen Jahren zeichnete sich immer stärker ab, dass mit einem Blick auf den deutschen Motorrad-Nachwuchs düstere Zeiten bevorstehen.
Erstmals seit etlichen Jahren gibt es in dieser Saison in der kleinsten Grand-Prix-Klasse, der Moto3, keinen deutschen Fixstarter.
Die Anzahl der deutschen Moto2-Piloten dürfte sich von 2019 zu 2020 deutlich reduzieren, denn Philipp Öttl und Lukas Tulovic haben nur geringe Chancen, sich in der mittleren Kategorie zu behaupten. Wir haben uns mit Ex-Weltmeister Sandro Cortese über das Thema deutscher Nachwuchs unterhalten.
„Es ist eine Katastrophe“, kommentiert Cortese im Gespräch mit ‚Motorsport-Total.com‘.“ Man hat in vielen Belangen versagt. Das fängt für mich schon im Pocket-Bike-Bereich an. Man holt die Talente nicht im Alter von 13 oder 14 Jahren. Das ist zu spät. In dem Alter steigen die jungen Fahrer in Spanien, Italien, England und jetzt auch aus dem Asia-Talent-Cup in die Junioren-WM auf.“
Nachwuchsarbeit beginnt zu spät
„Die ganzen deutschen Talente – Schrötter, Folger, Bradl, Öttl und ich – haben im Pocket-Bike-Bereich angefangen und sind danach zu den Mini-Bikes und dann zu den 125ern gewechselt. Das ist eine klassische Schule, die man durchlaufen muss, um später erfolgreich im Grand-Prix-Sport zu sein“, ist Cortese überzeugt.
„Wenn man an den Hobbybereich denkt, dann reicht es, mit 14 Jahren mit einer 300er anzufangen und dann in die IDM aufsteigen. Das ist der Weg, wenn man es nicht professionell machen will. Doch um echte Talente zu akquirieren, muss man ganz unten anfangen“, schildert der Moto3-Weltmeister von 2012.
„Es ist nicht die Aufgabe von deutschen Fahrern, die aktiv sind, irgendetwas zu kritisieren. Die Verbände leben teilweise von den deutschen Fahrern“, bemerkt Cortese. „Man hat über die Jahre hinweg den Zug verpasst und auf falsche Art und Weise Nachwuchsarbeit betrieben.“
Cortese wünscht sich große Starterfelder in den kleinen Klassen
„Es hätte in Italien keinen Nachwuchs gegeben, wenn Rossi das Thema nicht in die Hand genommen hätte. Bis auf wenige Ausnahmen kommen alle aus der VR46-Truppe. In Spanien haben die Fahrer den Vorteil, dass die Spanische Meisterschaft so stark ist. Es ist schade, weil wir in Deutschland die passenden Rennstrecken haben. Zudem haben wir die IDM“, bemerkt Cortese.
„Wir haben genügend gute Strecken für eine schöne Meisterschaft, auch im kleineren Bereich. Wir haben viele Go-Kart-Strecken, auf denen man anfangen kann. Ich erinnere mich an meine Zeit im ADAC-Mini-Bike-Cup. Wir hatten über 20 Starter pro Kategorie. Bei den Pocket-Bikes waren wir teilweise über 30 Starter“, erinnert sich der Supersport-Weltmeister.
Ein großes Fahrerfeld ist laut Cortese wichtig, um die wenigen besonderen Talente zu selektieren. „Man kann nicht erwarten, dass wir in einer Meisterschaft 30 Leute Talent haben. Das geht über Jahre. Aus fünf Jahren hat man vielleicht drei Fahrer mit WM-Chancen“, grübelt der Berkheimer.
„Diese drei müssen es dann erst einmal an die Weltspitze schaffen. Es gibt immer wieder Hürden. Der eine wird zu groß, der andere verliert die Lust, dann verletzt sich vielleicht ein anderer. Von zehn Fahrern schaffen es vielleicht zwei am Ende“, erklärt Cortese.
Die Jugend zeigt wenig Interesse am Thema Motorrad
Im Vergleich zu den Glanzzeiten des deutschen Motorradsports hat das Interesse der Jugend am Thema Motorrad stark abgenommen. „Es ist verständlich“, bemerkt Cortese und macht die ausbleibenden Erfolge verantwortlich.
„Es ist wie im Tennis. Wen interessiert im Moment Tennis? Zu Boris-Becker-Zeiten gab es einen deutschen Tennis-Boom. Es gab Jahre, in denen die ARD vom Motorradsport berichtet hat, weil es so viele deutsche Fahrer gab. Es ist wie ein Teufelskreis. Wenn es viel Nachwuchs gibt, schaffen es viele in die WM“, so Cortese.
Cortese lobt die Arbeit von Sport1
Doch trotz der WM-Titel von Stefan Bradl in der Saison 2011 und von Cortese ein Jahr darauf hat sich nicht viel getan in Deutschland. „Ich denke, damals war die Aufmerksamkeit deutlich größer als sie heute ist“, widerspricht Cortese und lobt die Arbeit von TV-Sender Sport1, der damals die Motorrad-WM in Deutschland übertragen und die deutschen Fahrer stark in den Fokus gerückt hat.
„Man hat sich damals immer beschwert. In Deutschland hat man immer etwas auszusetzen. Ich denke aber, dass Sport1 damals sehr gute Arbeit geleistet hat. Wir haben immer viel Feedback bekommen. Natürlich flacht das ab, wenn ein Sender überträgt, der die deutschen Fahrer nicht mehr so in den Vordergrund rückt. Die Deutschen wollen deutsche Fahrer sehen“, betont der ehemalige Grand-Prix-Pilot.
„Es schauen auch nicht mehr so viele Leute Formel 1, wenn ich sehe, wie die Zahlen bei RTL nach unten gehen, obwohl ein Vettel auch Zweiter oder Dritter wird. Das interessiert in Deutschland niemanden. Es zählen nur Siege“, kommentiert Cortese.
Was bringt die Zukunft?
Aktuell startet Cortese in der Superbike-WM für Yamaha. Im Januar 2020 feiert er seinen 30. Geburtstag und hat somit noch einige aktive Jahre vor sich. Kann sich Cortese vorstellen, nach seiner aktiven Karriere das Thema Nachwuchsförderung anzugehen?
„Ich sehe mich auf jeden Fall in der Position und auch in der Pflicht, da etwas tun zu müssen, auch weil wir den Sport so sehr lieben. Es ist aber unmöglich, diese Aufgabe einer Einzelperson aufzutragen. Selbst ein Rossi schafft das nicht alleine“, stellt Cortese klar.
„Es sind sicher 20 oder 30 Leute angestellt, die nur für die Akademie arbeiten. Sie haben einen eigenen Doktor, einen eigenen Physiotherapeut, einen eigenen Trainer, Leute für die Strecke, Mechaniker und so weiter. Das kann kein normaler Mensch finanzieren“, bemerkt der Deutsche.
Text von Sebastian Fränzschky
Quelle, Infos, Hintergrundberichte: www.motorsport-total.com/
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