Entscheiden die Sprintrennen am Ende den Titelkampf 2024?

(Motorsport-Total.com) – „Wenn man zehn Grands Prix gewinnt und trotzdem 24 Punkte hinten liegt, dann stimmt etwas nicht“, hielt Francesco Bagnaia nach seinem Sonntagssieg in Sepang fest – ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Sprintrennen.

Zwar sollten die Beschwerden eines Fahrers über ein Format, in dem er nicht gerade brilliert, immer mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden. Doch Bagnaia könnte tatsächlich einen Punkt haben, wenn es um den Einfluss der vor zwei Jahren eingeführten Sprintrennen auf den Ausgang der Weltmeisterschaft 2024 geht.

Um die Situation vor dem letzten Rennen zusammenzufassen: Bagnaia geht in das Saisonfinale in Barcelona als Außenseiter, obwohl er zehn Grands Prix gewonnen hat, im Gegensatz zu den drei Sonntagssiegen des punktführenden Jorge Martin.

Martins Vorteil lässt sich auf seine sieben Siege in MotoGP-Sprintrennen am Samstag und Bagnaias wiederholte Stürze in eben diesen Sprintrennen zurückführen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Bagnaia erfindet keine Ausreden für seine Schwierigkeiten in den MotoGP-Sprints. Er ist so ehrlich, dass man seine Aussage „Etwas stimmt nicht“ durchaus als mehr betrachten kann als nur Frust.

„Jorge war an den Samstagen einfach besser und hat dort wirklich gute Arbeit geleistet“, sagte Bagnaia nach seinem letzten Sturz am Samstag in Malaysia. Er zollt Martins Fähigkeit, ohne große Vorbereitung schnell zu sein, großen Respekt.

„Gestern ging Jorge einfach raus und fuhr eine 1:56.996, einfach so. Die Geschwindigkeit, mit der er sich anpassen und eine schnelle Zeit setzen kann, ist unglaublich.“

Bis vor zwei Jahren zählten nur Grands Prix
Da die Sprintrennen zu einem früheren Zeitpunkt am Wochenende stattfinden und Bagnaia oft noch an seinem Set-up arbeitet, hat dieser Unterschied zu Martins Vorteil geführt. Für jemanden, der die Kräfteverhältnisse bei den Sprints so realistisch einschätzt wie Bagnaia, hätte er seine derzeitige Situation wohl vermeiden können, indem er am Samstag einfach Schadensbegrenzung betrieben hätte.

Im Nachhinein würde er heute sicher ein paar zweite oder dritte Plätze vorziehen, statt auszufallen. Doch die größten Verluste ereigneten sich früh in der Saison, als das Bild – einschließlich seines Vorteils an den Sonntagen – noch nicht so klar war.

Doch mit all dem im Hinterkopf: 73 der 75 Jahre, die es Motorrad-WM mittlerweile gibt, hätte Bagnaia keine spezielle Samstagsstrategie entwickeln müssen. Grands Prix zu gewinnen – und gelegentlich die TT in den Niederlanden oder auf der Isle of Man – war immer das, was einem den Weltmeistertitel einbrachte.

Das ist ein grundlegender Teil des Erbes, das die MotoGP in diesem Jahr bei ihrem Jubiläum in Silverstone mit so viel Stolz gefeiert hat. Manche betrachten die Sprintennen als einen Schlag ins Gesicht dieses Erbes, seit sie 2023 eingeführt wurden.

Sollte Bagnaia in Barcelona gewinnen, hätte er 55 Prozent der diesjährigen Sonntagsrennen gewonnen. Um seine bisherigen zehn Siege einzuordnen: Die anderen Fahrer, die in der Königsklasse zehn Rennen in einer Saison gewonnen haben, sind Giacomo Agostini, Mick Doohan, Valentino Rossi, Casey Stoner und Marc Marquez. Sie alle gewannen in diesen Jahren auch die Weltmeisterschaft.

Bevor wir allerdings in Empörung für Bagnaia ausbrechen, sei gesagt, dass er prozentual gesehen das Niveau seiner Vorgänger nicht ganz erreicht hat. Wenn man die Sprints außer Acht lässt, gibt es heutzutage mehr Grands Prix pro Saison als früher. 1968 gab es beispielsweise nur zehn Rennen, und Agostini gewann alle.

Bessere Siegquote, aber trotzdem Zweiter
Sollte Bagnaia in Barcelona gewinnen, kam er am Sonntag zwar auf eine Siegquote von 55 Prozent liegt damit aber immer noch knapp unter dem niedrigsten Prozentsatz von 55,56, den Stoner 2007 mit seinen zehn Siegen in 18 Rennen erreichte.

Bezieht man die Sprints in die Betrachtung ein, muss man feststellen: Trotz der Kritik an den Punkten, die er dort verloren hat, hat Bagnaia immerhin sechs Sprintsiege erreicht – nur einen weniger als Martin, was die gängige Meinung, Martin sei der mit Abstand schnellste Mann am Samstag, infrage stellt.

Insgesamt wären das 16 Siege für Bagnaia in dieser Saison, aus möglichen 38 Rennen bisher – ein Anteil von 42,1 Prozent. Martin kommt mit sieben Sprintsiegen und drei Grand-Prix-Siegen im Vergleich dazu auf einen Gesamtanteil von 26,32 Prozent.

Man kann mit diesen Statistiken spekulieren, was hätte sein können, wenn man andere Platzierungen und Ausfälle mit einbezieht. Aber wir hören hier auf. Das System ist, wie es ist, und obwohl Bagnaia gemessen an Siegen insgesamt mehr erreicht hat, hat er einfach zu viele Punkte verloren – meistens an Samstagen.

Die Frage ist, ob diese Samstagsfehler zu viel Gewicht haben. Oder anders gesagt: Sollten Sonntags-Grands-Prix mehr wert sein – im Sinne der MotoGP-Tradition?

Der Name sagt es schließlich. Wer etwas Französisch versteht, weiß, dass der „Grand Prix“ eines Landes oder einer Region als der „Große Preis“ gilt. Früher gab es nur einen. Abgesehen davon bringt ein längeres Rennen auch das Reifenmanagement ins Spiel – eine Fähigkeit, die viele für einen Champion als essenziell ansehen.

Die kürzeren Sprintrennen testen diesen Punkt nicht. Angenommen, etwas ist tatsächlich „falsch“ am System. Was sollte man also mit den Samstagssprints tun?

Zu viele Rennen oder doch eine Aufwertung?
Die extreme Lösung wäre, die Sprints komplett als unnötigen Versuch zu betrachten, das System der Formel 1 zu kopieren. Sie führte Sprintrennen im Jahr 2021 ein. Statistiker und einige Medien wären sicher nicht unglücklich darüber.

Denn die Sprints haben zu allen möglichen Komplikationen in Bezug auf Rekorde, Statistiken und Begrifflichkeiten geführt. Bedeutet „Rennen“ nur der Grand Prix? Meint der Grand Prix von Malaysia das ganze Wochenende oder nur das Sonntagsrennen? Was noch wichtiger ist: Könnten solche Fragen Fans verwirren und entfremden, da sie Besseres zu tun haben, als nach Definitionen zu suchen?

Es könnte auch sinnvoll sein, das Publikum zu fragen: Haben einige Fans womöglich genug davon, samstags und sonntags die Rennen zu verfolgen? Gibt es so etwas wie „zu viel“ MotoGP? Die meisten Menschen haben schließlich ein Leben außerhalb des Motorsports, was Entscheidungsträger berücksichtigen sollten.

Auf der anderen Seite können Samstagssprints für Fans, die sich Wochenendkarten kaufen, ein Anreiz sein. Man muss davon ausgehen, dass sie dazu beitragen, solche Karten zu verkaufen – ein Argument gegen eine vollständige Abschaffung.

Ein realistischerer Ansatz könnte sein, die Formel 1 vollständig zu kopieren. Denn die MotoGP führt an jedem Wochenende Sprintrennen durch, während die Formel 1 sie nur bei ausgewählten Events veranstaltet. In den ersten beiden Jahren gab es nur drei „Sprint-Wochenenden“. 2023 und 2024 waren es sechs.

Bei diesem Modell werden Sprints als besonderes Extra betrachtet, das nicht von der Haupthandlung ablenkt. Sie könnten von Saison zu Saison immer zwischen den Austragungsorten rotieren oder alternativ für historische, prestigeträchtige Rennstrecken wie Jerez, Silverstone oder Assen reserviert werden.

Weniger Punkte oder eine extra Sprintwertung
Eine weitere Möglichkeit, um den Einfluss der Sprints zu verringern, wäre eine Änderung des Punktesystems. Auch hier könnte die MotoGP der Formel 1 folgen. Dort bringt ein Sprintsieg acht Punkte, für einen Grand-Prix-Sieg gibt es 25 Punkte.

Die MotoGP belohnt Grand-Prix-Siege ebenfalls mit 25 Punkten. Doch ein Sprintsieg bringt hier fast die Hälfte. Aber sollte ein Sprintsieg wirklich 12 Punkte wert sein?

Eine andere Variante wäre, die Sprints weiterzuführen, sie aber aus der Meisterschaft auszuklammern. Auf diese Weise könnte man samstags immer noch Tickets verkaufen und den Hardcore-Fans ein Extra bieten, während man die klare Botschaft sendet, dass diese Rennen ein Bonus sind. Eine Art Showrennen.

Ein kurzes Rennen ohne Punkte-Risiko scheint auf dem Papier eine reizvolle Lösung zu sein. Die Ticketkäufer hätten ein spannendes Rennen, und es ist schwer vorstellbar, dass sie sich beschweren würden, wenn es nicht zur Meisterschaft zählt.

Doch würden die Teams sich dann wirklich darauf einlassen, wenn keine Punkte auf dem Spiel stehen? Es bestünde die Gefahr, dass Teams Sprints, die nicht in die Wertung eingehen, eher als zusätzliche Trainingssession sehen. Diese Idee sollte wohl nur nach ausführlicher Beratung mit den Beteiligten weiterverfolgt werden.

Eine weitere Möglichkeit wäre, etwas wie einen „Sprint-Cup“ als eigenständige Meisterschaft einzuführen. So bliebe ein größerer Anreiz bestehen. Und es wäre eine Wertung, auf die die Marketingabteilungen der Hersteller ihren Fokus richten könnten, falls es bei der Weltmeisterschaft für sie nicht so gut läuft.

Nach nunmehr zwei Jahren des Sprintexperiments wäre es für MotoGP sicherlich kein Makel, das Format zu überdenken. Bagnaia ist wahrscheinlich nicht der Einzige, der findet, dass das derzeitige Modell das Gleichgewicht in der Meisterschaft etwas stört. Und wie wir gesehen haben, gibt es durchaus Alternativen.

Text von Richard Asher, Übersetzung: Juliane Ziegengeist

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