(Motorsport-Total.com) – Im Motorsport, wo die Abstände so eng sind und wo jede Tausendstelsekunde zählt, ist für die Rennfahrer jede Hilfe willkommen, um ihre Rundenzeiten zu verbessern.
In der Königsklasse der Motorrad-WM wurde vor einigen Jahren eine Technik eingeführt, die mittlerweile so weit perfektioniert wurde, dass sie für viele MotoGP-Piloten zu einem Schlüsselfaktor geworden ist: Videometrie.
Die Folge ist, dass in der MotoGP-Saison 2024 zum ersten Mal jedes Team einen Videometrie-Techniker oder einen Videometrie-Coach einsetzen wird. Zuerst stellt sich natürlich die Frage, was Videometrie überhaupt ist.
„Es geht darum, an einem bestimmten Punkt der Strecke, wobei es immer Kurven sind, die Linie der vorher bestimmten Fahrer aufzunehmen. Anschließend werden die Bilder mittels einer Software überlagert, um die Unterschiede in den Linien, die jeder Fahrer fährt, sehen zu können. Ziel ist es, wenn möglich, die Linie des schnellsten Fahrers zu imitieren“, erklärt ein ehemaliger MotoGP-Technikchef gegenüber der spanischsprachigen Ausgabe von Motorsport.com.
„Sobald man die Bilder hat, ist es sehr einfach, sie zu analysieren. Und es ist sehr effektiv, besonders wenn man Fahrer mit dem gleichen Motorrad vergleicht“, sagt der Techniker, dessen Team dieses System noch nicht zur Verfügung hatte, als er selber in der MotoGP-Klasse tätig war. „Sie fingen erst im folgenden Jahr an, es zu benutzen“, bedauert er.
Während eines Grand-Prix-Wochenendes ist oft zu hören, wie ein Fahrer sagt, dass er in einer bestimmten Kurve oder in einem bestimmten Sektor der Strecke Zeit verliert. Dann heißt es oft: „Wir werden das aber bis morgen korrigieren.“
Diese Korrektur kann auf zwei Arten erfolgen: Die traditionelle Methode besteht darin, demjenigen Fahrer auf der Strecke zu folgen, der an jener Stelle schneller fährt, um zu verstehen, was er besser macht als man selber. Die andere Möglichkeit besteht darin, Videometrie einzusetzen, um die unterschiedlichen Linien zu studieren und zu vergleichen.
Seltsamerweise war Ducati das letzte Team im MotoGP-Feld, das einen Coach für die Arbeit an dieser Technik eingestellt hat.
Ingenieur aus Belgien als Pionier
Der erste Datentechniker, der zur Verbesserung der Rennlinien auf Videotechnik setzte, war der Belgier Serge Andrey. Er begann damit im Jahr 2011 bei Ducati. Zwei Saisons lang wurde das System weiterentwickelt, bevor der italienische Rennstall mit der Ankunft von Andrea Dovizioso (2013) das Programm einstampfte.
Andrey, ein gelernter Ingenieur, begann fortan mit der Entwicklung seiner eigenen Software, da es zum damaligen Zeitpunkt schlichtweg keine Software auf dem Markt gab, die aufgenommene Bewegtbilder überlagern konnte. Das Know-how des Belgiers blieb nicht unbemerkt. LCR-Honda nahm ihn 2014 unter Vertrag, um die Resultate von Stefan Bradl zu verbessern. Das Ergebnis war aber, dass Bradl seine bis dahin schlechteste Saison erlebte und 2015 zu Aprilia wechselte.
2015 schloss sich Cal Crutchlow dem LCR-Team von Lucio Cecchinello an und die Videometrie-Abteilung begann zu wachsen. Das passierte in einem solchen Ausmaß, dass man sogar die Aufmerksamkeit von Marc Marquez auf sich zog, der zu dieser Zeit der Star im Honda-Werksteam war. Der Spanier begann, den Truck zu besuchen, in dem Andrey arbeitete, und bei Honda bezahlte man den Ingenieur dafür, dass er sich um ihren Champion kümmerte.
Zur selben Zeit begann das Suzuki-Team, die gleiche Technik mit einem anderen Ingenieur, Motohiko Tono, anzuwenden. Der Japaner nutzte moderner gewordene Videoaufzeichnungssoftware und passte sie für die Aufgabe an der Rennstrecke an. Das Ganze geschah offenbar mit Erfolg, denn das Honda-Werksteam verpflichtete Tono umgehend, um seine eigene Videometrie-Abteilung aufzubauen.
Es funktionierte allerdings nicht wie erwartet, denn Marc Marquez zog es vor, weiterhin die Dienste des LCR-Ingenieurs Serge Andrey in Anspruch zu nehmen und Tono die Arbeit mit dem zweiten Honda-Piloten zu überlassen. Das war im Jahr 2022 Pol Espargaro, im Jahr 2023 Joan Mir.
Marquez‘ Vertrauen in Andrey war so groß, dass er ihm anbot, mit ihm gemeinsam zu Gresini-Ducati zu wechseln, oder aber alternativ die Software zu kaufen, die der Ingenieur aus Belgien im Laufe der Jahre entwickelt hatte. Andrey aber zog es vor, sein Geheimnis bei LCR, wo er seit zehn Jahren zu Hause ist, zu behalten.
Tonos Platz bei Suzuki wurde übrigens von einem anderen Techniker eingenommen, dem Italiener Francesco Munzone. Er war der Performance-Ingenieur des im japanischen Hamamatsu ansässigen Teams. Er erklärt die Videometrie wie folgt.
„Im Grunde geht es darum, die Fahrer in einem bestimmten Streckenabschnitt aufzuzeichnen. Dann überlagert man die Bilder, um die einzelnen Manöver zu sehen und den Fahrer selber überprüfen zu lassen, was er tut, was er nicht tut und was ihm helfen könnte. Ursprünglich war alles eher rudimentär, aber heute gibt es kostenlose oder lizenzierte Softwareprogramme“, so Munzone.
Coaches betreten die Bühne
Das bedeutet, dass die MotoGP-Teams keinen Ingenieur mehr benötigen, um diese Arbeit zu erledigen. Und es bedeutet, dass der Posten des Bildaufnehmers und -bearbeiters sowie des Videometrie-Coaches eingeführt wurde.
Yamaha begann 2019 mit der Ankunft von Esteban Garcia als Crewchief für Maverick Vinales (der die Technik schon aus seiner Zeit bei Suzuki kannte) damit, einen Videoexperten zu beschäftigen. Daniel Bollini war es, der die Bilder aufnahm und die Videos bearbeitete, während die Crewchiefs (und auch Wilco Zeelenberg als damaliger Riding-Coach) die Aufgabe hatten, die Videos zusammen mit den Fahrern zu analysieren.
Schnell begriffen die Teams, dass die Position des klassischen Riding-Coaches durch Bilder unterstützt werden musste. Allein das, was die Coaches am Streckenrand mit eigenen Augen sahen, war nicht mehr ausreichend. Die Eindrücke mussten unterstützt werden durch das, was aus den Videos hervorging.
Das VR46-Team, das mit dem Spanier Idalio Gavira über den vielleicht besten Coach im Fahrerlager verfügt, setzte Roberto Locatelli als Videometrie-Coach ein. Die Fahrer analysierten die Bilder ihrer Linien sowohl mit Gavira, dem sogenannten „Capo“, als auch mit Locatelli.
2023 hat Locatelli das MotoGP-Team VR46 verlassen, um sich dem Fantic-Team in der Moto2-Klasse anzuschließen. Seinen Platz im MotoGP-Team hat der ehemalige VR46-Pilot Andrea Migno eingenommen. Heute ist er derjenige, die die Videos aufnimmt und Gavira damit unter die Arme greift.
Das Gresini-Team arbeitet ebenfalls seit einiger Zeit an der Videotechnik, in diesem Fall mit einem anderen ehemaligen Fahrer aus Italien, dem zweimaligen Weltmeister Manuel Poggiali. Dessen Arbeit ist bei Ducati nicht unbemerkt geblieben. Seit Jahresbeginn 2024 gehört Poggiali zur Videometrie-Abteilung von Ducati, wo er zumindest in diesem Jahr abwechselnd für das Gresini-Team und für das Werksteam arbeitet.
Somit bringt Ducati – wo man die Videotechnik einst im Jahr 2011 einführte, um sie dann 2013 wieder zu den Akten zu legen – nun zehn Jahre später diese Technik mit einer eigenen Abteilung zurück. Damit zeigt man, dass Videometrie mittlerweile durchaus zu einem Faktor geworden ist, der von den Fahrern als hilfreich empfunden wird.
Genau das hat man auch im Pramac-Team verstanden, wo man trotz eines knappen Budgets für personelle Veränderungen nun Max Sabbatani als Verantwortlichen für die Videometrie eingestellt hat. „Das war ein Bereich, der uns fehlte. Mit Max werden wir in diesem Bereich einen Schritt nach vorne machen“, ist Pramac-Teammanager Gino Borsoi im Gespräch für die spanischsprachige Ausgabe von Motorsport.com überzeugt.
Bei KTM hat man sich schon vor einigen Jahren zum Schritt hin zur Videometrie entschieden. Der Ausgangspunkt war, als der Sohn des damaligen Teammanagers Mike Leitner für die Aufzeichnung und Bearbeitung des Videomaterials zuständig war, das die Techniker aufgenommen hatten.
Mit Leitners Weggang von KTM Ende 2021 entschied sich das Unternehmen mit Sitz im österreichischen Mattighofen, eine externe Firma mit der Video- und Bildbearbeitung zu beauftragen. So macht es auch Aprilia und so machen es auch die jeweiligen zweiten Teams dieser beiden Hersteller (Tech3-GasGas respektive Trackhouse-Aprilia).
Auch in der Superbike-WM ist die Videometrie auf dem Vormarsch. Ducati und Yamaha verfügen bereits über das System und ihren jeweiligen Coach (Chaz Davies bei Ducati und Nicolo Canepa bei Yamaha). Honda wird das System in der bevorstehenden Saison 2024 einführen.
Text von German Garcia Casanova, Übersetzung: Mario Fritzsche
Quelle, Infos, Hintergrundberichte: www.motorsport-total.com/
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