„Ein dicker Vauzwo zieht von unten.
Einen Vierzylinder mußt du drehen.“
Vergiß es.
Nicht nur die Spitzenleistung, sondern auch der Charakter eines Motors wird von der Nockenwelle, also den Steuerzeiten bestimmt. Mit ihrer Hilfe kannst du aus jedem beliebigen Motor eine drehzahlgierige Sau oder einen brav ziehenden Ochsen machen. Es ist dabei völlig egal, ob du es mit einem Lang- oder Kurzhuber zu tun hast, mit einem Ein- oder Vierzylinder. Unabhängig vom Motorkonzept entscheiden die Steuerzeiten darüber, ob du schon bei niedrigen Drehzahlen Leistung vorfindest – oder keine, ob der Motor eine betont starke Mitte hat, ob ihm bei hohen Drehzahlen die Luft ausgeht oder ob er sich gerade dort besonders wohl fühlt. Natürlich werden großvolumige Vauzwos in den meisten Fällen auf strammen Zug von unten ausgelegt, während 600er Vierzylinder ihr maximales Drehmoment erst bei hohen Drehzahlen erreichen. Das ist aber vor allem ein Zugeständnis der Hersteller an die Erwartung der Kundschaft – und kein originäres Merkmal des Motorenkonzepts.
Beginnen wir mit ein bißchen Theorie und betrachten zuerst den Ansaugtakt:
Der Kolben befindet sich im oberen Totpunkt (OT) und macht sich nun auf den Weg nach unten. Damit er Frischgas ansaugen kann, muß das Einlaßventil öffnen. Sobald der Kolben den unteren Totpunkt (UT) erreicht hat, schließt es wieder und der Verdichtungstakt kann beginnen.
Mit solchen Einlaß-Steuerzeiten würde ein Motor schon laufen und in den Anfangszeiten des Motorenbaus, in denen die maximale Drehzahl bei ein paarhundert Umdrehungen pro Minute lag, reichten sie auch aus. Wer Lust hat, kann in diesem Zusammenhang mal „Schnüffelventil“ in eine Suchmaschine seiner Wahl eingeben. Ich mag Schnüffelventile ja alleine schon wegen ihres Namens und würde gerne noch etwas dazu schreiben, aber der Artikel wird auch so lang genug. Wenn wir nun aber die typische Ventilerhebungskurve eines modernen Motors betrachten, sehen wir, dass das Einlaßventil tatsächlich deutlich länger öffnet.
Bei dieser Gelegenheit noch schnell ein paar Zahlen, die ich mir immer wieder gerne ins Gedächtnis rufe und die das Folgende verdeutlichen sollen: In einem Viertaktmotor muß der Hubraum bei 5000 Umdrehungen in einer Sekunde vierzigmal gefüllt werden muß. Vierzigmal – in einer Sekunde. Und die meisten Motoren drehen heute zwei oder sogar dreimal so hoch. Schon die mittlere Gasgeschwindigkeit im Einlasskanal beträgt bei Nenndrehzahl bis zu 120 m/s (432 Kmh). Weil die Gassäule dabei aus dem Stand beschleunigt werden muß und später durch die kleiner werdende Ventilöffnung wieder gebremst wird, weil außerdem auch der Kolben am Anfang und Ende seiner Abwärtsbewegung relativ langsam ist, liegt die Spitzengeschwindigkeit ungefähr um den Faktor 1,6 höher. Bei diesen Beschleunigungen entwickelt selbst Luft eine erstaunliche Masseträgheit und – wenn sie einmal in Bewegung ist – Kraft. Wohl jeder weiß, wie es sich anfühlt, wenn man bei 120 Kmh die Hand aus dem Autofenster hält. Eine Windböe von 150 Kmh fegt einen Fußgänger locker von der Straße. Bei 432 Kmh wäre sie schon mehr als achtmal so stark.
Schauen wir uns nun wieder den Einlassbeginn an. Er bezeichnet den Punkt, an dem das Einlassventil mit der Öffnung anfängt und liegt schon deutlich vor OT. Der Grund dafür ist, daß ein Ventil sich nicht beliebig schnell öffnen lässt. Also muß es vor OT damit beginnen, um rechtzeitig einen großen Querschnitt freizugeben. Der Kolben erreicht seine maximale Geschwindigkeit, bevor er die Hälfte des Weges zurückgelegt hat, und das einströmende Frischgas würde sonst unnötig stark hinterherhinken. Heutige Motoren drehen aber so hoch, dass sich auch mit großen Ansaugquerschnitten eine Verzögerung bis zum Ende des Ansautaktes nicht vermeiden läßt.
Aus diesem Grund bleibt das Ventil auch dann noch geöffnet, wenn der Kolben den UT durchschritten hat und der Kompressionstakt beginnt, weil zu diesem Zeitpunkt immer noch Unterdruck im Zylinder herrscht. Wenn der ausgeglichen ist, drückt die Gassäule im Einlasskanal gegen die Aufwärtsbewegung des Kolbens weiter Gemisch in den Zylinder. Erst wenn der Druck im Zylinder soweit gestiegen ist, dass er den des einströmenden Gemischs erreicht, sollte das Einlassventil schließen. Die Füllung wir dabei umso stärker verzögert, je höher der Motor dreht. Ein später Einlassschluss ist deswegen vor allem bei hohen Drehzahlen notwendig, bedeutet aber auch, dass bei niedrigen Drehzahlen ein Teil der Füllung wieder verloren geht, weil er in den Einlaß zurückgeschoben wird. Das ist der wesentliche Grund, aus dem Motoren mit hoher Literleistung unten relativ schlecht gehen. Prinzipiell wird sich das nie vermeiden lassen, in der Praxis ist dieser Effekt aber nicht so stark, wie man zunächst vermuten möchte. Dazu später mehr.
Der Rest des Kompressionstaktes wird mit geschlossenen Ventilen erledigt und das bleibt auch den größten Teil des folgenden Verbrennungstaktes so. Zu dessen Ende öffnet das Auslassventil vor UT, um das verbrannte Gas schon vor dem eigentlichen Ausstoßtakt in den Auslasskanal strömen zu lassen, damit der Kolben bei seiner Aufwärtsbewegung nicht gegen einen zu hohen Druck arbeiten muß. Weil der Verbrennungsdruck dort noch ca. 5 bar beträgt, liegt die Geschwindigkeit des Abgases zu Beginn der Ventilöffnung bei Schallgeschwindigkeit und es strömt mit einem Knall in den Auspuff. Durch die frühe Öffnung des Ventils wird zwar etwas Energie verschenkt, aber der Verlust ist in diesem Fall relativ gering, weil der Hebel des Pleuellagers in dieser Stellung zur Kurbelwelle schon sehr klein ist und auch der Verbrennungsdruck nur noch ungefähr ein Zehntel seiner ursprünglichen Kraft hat. Jetzt bewegt sich der Kolben nach oben und drückt das verbrannte Gemisch in den Auspuff. Unterstützt wird er am Ende seines Weges durch einen Sog aus dem Auslaß, in dem das ausströmende Abgas nun einen Unterduck erzeugt. Dabei spielt die Konstruktion der Auspuffanlage eine wichtige Rolle. Auch dazu später mehr.
Der Auslassschluss liegt hinter OT, also dem Ende des Ausstoßtaktes. Ein Grund dafür ist wiederum, dass das Ventil sich nicht beliebig schnell schließen lässt und es auch hier eine drehzahlabhängige Verzögerung der Strömung gibt, die es erforderlich macht, zum Ende des Auslasstaktes noch eine möglichst große Öffnung freizugeben.
Ein mindestens ebenso wichtiger Grund liegt in der Ventilüberschneidung. Mit Ventilüberschneidung wird der Bereich im Übergang vom Ausstoß- zum Ansaugtakt bezeichnet, in dem beide Ventile geöffnet sind. Ihre Rolle beim Gaswechsel und der Leistungsfindung kann man garnicht hoch genug einschätzen. Manchmal höre ich etwas in der Art von „Der Motor hat eine große Ventilüberschneidung und geht nur noch obenrum“. Lass dir davon nicht bangemachen. Tatsächlich bewirkt gerade eine starke Ventilüberschneidung ein hohes Drehmoment. Und das kann sich durchaus schon bei relativ niedrigen Drehzahlen einfinden.
Weil’s mir so sehr am Herzen liegt, nochmal ein Schnelldurchlauf: Das Auslassventil hat geöffnet, das verbrannte Gas strömt unter hohem Druck in den Auspuff und der Kolben schiebt den Rest hinaus. Bevor er den OT erreicht, entsteht im Brennraum ein Unterdruck. Gleichzeitig beginnt der Ansaugtakt. Und nun müssen wir uns kurz erinnern. Das Einlassventil öffnete schon vor OT, also in genau diesem Moment. Sofort wird die Luft im Einlasskanal vom Unterdruck im Brennraum angesaugt. Durch den Druckausgleich ermöglicht sie es dem Abgas, das sich noch im Brennraum befindet, in den Auspuff zu strömen. Ohne diesen Effekt würde ein Teil des verbrannten Gemischs im Brennraum bleiben und dem guten Gas den Platz wegnehmen. Vor allem aber nimmt das Frischgas im Ansaugkanal schon Fahrt auf. Diese Dynamik wirkt zusätzlich zum Ansaugen des Kolbens, erleichtert ihm die Arbeit und verbessert die Füllung ganz erheblich. Ein gut abgestimmter Motor mit einer hohen Überschneidung kann durchaus 20-30% Drehmoment erreichen als ein Motor mit nur geringer Ventilüberschneidung. Je höher die Überschneidung ist, umso wichtiger wird die Länge des Ansaugkanals. Dabei wirkt die Luftsäule wie ein Energiespeicher. Durch ihre Trägheit kommt sie zwar nicht sofort in Bewegung, erhält aber die Energie, die sie vom Unterduck im Brennraum aufgenommen hat. Bei einem kurzen Ansaugweg und niedrigen Drehzahlen ist ihre Masse nicht groß genug und sie wird zu schnell angesaugt. Ein Teil fließt dann in den noch geöffneten Auslaß. Zum einen ist das Spritverschwendung, zum anderen verschwindet auch Ansaugenergie wirkungslos im Auslaß. Wenn der Ansaugweg zu lang ist, wird bei hohen Drehzahlen das Einströmen so stark verzögert, dass die Ansaugsäule, obwohl sie noch genug Kraft hätte, den Brennraum weiter zu füllen, nur noch auf das geschlossene Einlassventil trifft. Das Fenster zwischen diesen beiden Extremen ist aber erfreulich groß und so kannst du mit einer hohen Überschneidung und der passenden Ansauglänge weite Bereiche des Drehzahlbandes abdecken. Nach meiner Erfahrung sind es mindestens zwei Drittel des nutzbaren Bereichs und über entsprechend lange Trichter lässt er sich an persönliche Präferenzen anpassen. Erst eine extrem große Überschneidung wird bei niedrigen Drehzahlen soviel Leistung kosten, daß du sie nur in Rennmotoren findest. Aber selbst die gehen schon in der Mitte sehr gut.
Einen Wermutstropfen gibt es allerdings noch.
Die Auspuffanlage. Ihre vornehmste Aufgabe ist es, über eine möglichst große Drehzahlspanne pünktlich zum Ende des Auslasstaktes einen Unterdruck im Brennraum zu erzeugen. Originaldämpfer sind Reflektionsdämpfer und fast immer ordentlich auf den serienmäßigen Motor abgestimmt. Sie werden aber erfahrungsgemäß heikel, sobald irgendetwas an den Steuerzeiten in Richtung mehr Überschneidung verändert wird. In 90% der Fälle erzeugen sie, in der Regel am unteren Ende des zweiten Drehzahldrittels, eine ungünstige Resonanz und hinterlassen dort ein tiefes Loch in der Drehmoment-Kurve. Abhilfe schafft hier oft schon ein guter Absorptionsdämpfer. Weil aber, besonders bei Mehrzylindern, auch die Krümmerführung eine große Rolle spielt, kann es sein, daß auch der Serienkrümmer ersetzt werden muß.
Der Bau wirklich guter Auspuffanlagen ist eine Kunst für sich und deswegen greife ich gerne auf die Komplettanlagen renommierter Hersteller zurück. Die gibt es für sehr viele Motorräder mit ABE. (Lärm ist der guten Sache zwar nicht per se abträglich, aber genauso wenig ist er ein Indikator für Leistung) Auch wenn sie schon an Serienmotorrädern gut funktionieren, zeigen diese Anlagen erst mit einer hohen Überschneidung, was sie wirklich draufhaben. Auf dem Leistungsdiagramm erscheint dann eine füllige, sauber durchgezogene Kurve. Du solltest dich also schonmal mit dem Gedanken anfreunden, eine Auspuffanlage kaufen zu müssen, wenn du dich an die Steuerzeiten machen willst.
Jetzt nochmal etwas zum Einlassschluss:
Er spielt die Hauptrolle, wenn es um die Frage geht: Druck schon ganz unten – oder hohe Spitzenleistung. Er kann immer nur eins von beidem richtig gut. Je länger das Einlassventil nach OT geöffnet bleibt, umso stärker wird die Füllung bei hohen Drehzahlen bevorzugt. Bis zu einer gewissen Grenze lässt sich der Verlust bei niedrigen Drehzahlen durch eine größere Ansauglänge kompensieren, ohne dass die Spitzenleistung ernsthaft darunter leiden muß. Irgendwann ist diese Grenze aber erreicht. In immer mehr Motorrädern werden deswegen Saugrohre mit variabler Länge verbaut. Die Anfangslänge ist so groß, dass sie für den unteren und mittleren Bereich passt. Wenn der Motor in den Drehzahlbereich kommt, in dem sie die Leistung drosseln würde, wird der Ansaugweg über einen Stellmotor verkürzt. Besser wäre eine kontinuierliche Verstellung, aber auch diese Lösung bringt in der Praxis schon recht ordentliche Ergebnisse.
Der Auslassbeginn hängt vom Einlaßschluss ab. Ein später Einlaßschluß funktioniert nur dann richtig, wenn der Auslassbeginn weit vor UT erfolgt. Wie zu erwarten war, ist auch dieser Wert ein Kompromiss, der nur in einem bestimmten Drehzahlbereich gelingt. Die meisten Motoren sind beim Auslassbeginn aber angenehm unempfindlich und reagieren entspannt, solange du dich nicht komplett verhaust.
Soviel zur Theorie.
Falls sich das alles so angehört hat, als wäre die Wahl und Einstellung der Steuerzeiten eine fürchterlich komplizierte Angelegenheit – in der Praxis ist es garnicht so schlimm. Es gibt reichlich Erfahrungswerte, die eine ziemlich genaue Prognose der zu erwartenden Leistungskurve zulassen. Auch mit Computerprogrammen lassen sich Gaswechsel inzwischen gut berechnen. Der Rest ist dann immer ein bißchen Intuition und viel Arbeit auf dem Prüfstand.
Und zum Schluß auch noch eine Antwort auf die gern gestellte Frage, warum denn nicht schon der Hersteller die Steuerzeiten optimal gewählt hat. Sie lautet, dass die Jungs in den Entwicklungsabteilungen das selbstverständlich könnten – wenn sie nur dürften. Besonders eine brauchbare Überschneidung wirst du in modernen Motoren nicht finden, weil dann in einigen Betriebszuständen ziemlich viel unverbrannter Sprit ins Abgas gerät und damit keine heutige Abgasnorm zu schaffen ist. Bis vor einigen Jahren waren die Normen noch nicht so scharf und das Problem ließ sich bei mäßiger Überschneidung mit einem Sekundärluftsystem in den Griff bekommen.
Aber auch diese Zeiten sind endgültig vorbei. Zum anderen werden die Steuerzeiten so ausgelegt, wie der Hersteller die Bedürfnisse des durchschnittlichen Kunden einschätzt. So hat zum Beispiel die Triumph Thruxton einen vorbildlich gleichmäßigen – oder auch pottenlangweiligen Leistungsverlauf. Wenn dir ein Motorrad richtig gut gefällt, du aber das Pech hast, nicht in die Zielgruppe zu passen, die nichtsnutzige Marketingexperten sich bei der Festlegung der Motorcharakteristik zusammenphantasiert haben, weißt du jetzt, dass du nicht alleine bist.
Ein gnädiger Tuner wird sich deines Problems annehmen.
Oder du liest den zweiten Teil, der demnächst erscheint. Da wird es etwas praktischer.
Motorradtuning ist keine Hexerei – DAS Tuning-Nachschlagewerk: » www.Tuning-Fibel.de
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